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Der Mann der Fragen

Das Berliner Haus der Kulturen der Welt rekonstruiert den Bilderatlas des Kunsthistorikers Aby Warburg

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 6 Min.

Aby Warburg (1866-1929) war ein wichtiger und verwirrender Gelehrter. Mitten in der Epoche der Sprache kündigte er die des Bildes an. Das Bild interessierte ihn nicht in seiner Gestalt, sondern in seinem Gehalt und in seiner Vernetzung mit anderen Bildern. Doch methodologisch blieb er im Vagen und sein größtes Probestück, den als Buch geplanten »Mnemosyne«-Bilderatlas, hat er nicht vollendet. Beim Umzug seines Instituts nach London, 1933 auf der Flucht vor den Nazis, verscholl der Atlas. Das Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) stellt nun eine vollständige Rekonstruktion, nebst einigen Vorarbeiten, aus.

Nachdem er schon geraume Zeit in diese Richtung gedacht hatte, begann Warburg die Arbeit am Atlas 1924, direkt nach einem längeren Aufenthalt in einer Psychiatrie. In seinem Wahn hatte er sich für Kronos gehalten, der wie die Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, zum Geschlecht der Titanen gehört. Im Zeichen dieser Titanin begann er nach seiner Gesundung, auf 63 schwarzen Tafeln von je 120x150 Zentimetern (in der Literatur findet sich auch die Angabe 150x200 Zentimetern), gut 2000 Ikonen immer wieder neu anzuordnen; die letzte Fassung umfasst 971 Stücke. Aus Kunstreproduktionen, die teilweise von eigenen Fotografen erstellt wurden, aus Zeitungsausrissen, Ansichtskarten, Briefmarken, Buchseiten, Zeichnungen und auch zwei Drucken wob er Bildernetze, die er mit Karten und Manuskriptseiten ergänzte; Titel für die einzelnen Abteilungen sind uns durch seine Mitarbeiterin Gertrud Bing überliefert.

Warburg wollte zunächst nur zeigen, wie die Antike, ihr Pathos, ihr »bewegtes Leben« in den Formeln der Renaissance wiederkehrt. Nicht nur das Bild, sondern auch seine »Gebärde«, und nicht die Gebärde allein, sondern auch, was sie ausdrückt, wollte er einfangen. Das Ganze wuchs sich aber immer mehr aus, schloss immer neue Gebiete mit ein und wurde schließlich zu einer Sternkarte, die Seeleute auf dem stürmischen Ozean der Moderne heranziehen könnten. Ob sie dank ihrer in einen sicheren Hafen finden, ist allerdings ungewiss. Warburg geht also über das »imaginäre Museum« von André Malraux, das ebenfalls Fotoreproduktionen von Kunstwerken verwendet, weit hinaus, nicht nur dank der netzartigen Struktur des Atlas, sondern auch, weil Kunst für ihn, mehr als für Malraux, nur als Teil einer Totalität Sinn ergibt.

Was lange als sein enormer Nachteil galt, dürfte inzwischen sein größter Vorteil geworden sein: Die Bilder sind zwar nicht beliebig, aber nach keiner ausformulierten Systematik angeordnet. Alle nachgereichten Methoden, ob von Godefridus Johannes Hoogewerff oder von Erwin Panofsky, erwiesen sich als zu eng. Warburg ist »unser Dibbuk«, wie der Philosoph Georges Didi-Huberman schrieb, also ein Totengeist, der alles durcheinanderwirbelt. Doch Chaos regt nicht nur an, es verstört auch. Deshalb ist es wichtig, wenigstens den Kurs von Warburgs Schiff anzugeben, wenn wir schon sein Ziel nicht kennen.

Dafür müssen wir uns ins Jahr 1912 begeben. In diesem Jahr hielt Warburg einen Vortrag auf dem Kunsthistorikerkongress in Rom. Was zunächst nur eine überraschende Analyse der astrologischen Elemente auf Fresken des Palazzo Schifanoia in Ferrara war, erwies sich als Skizze zu einer neuen Kulturtheorie. Warburg wollte die Einschränkung auf Stil, Form und Wahrnehmung ebenso sprengen wie die Selbstkasernierung der Kunst. Er wollte über die Jahrhunderte und die Fachgebiete hinweg die Gehalte von Bildern, gerade auch ihre unbewussten, untersuchen. So wandte er sich gegen den »Snobismus des Kennerschaftlichen oder der sentimental phantasierenden Männerbrust«. Ein Törichter, der ein uraltes Muster nachahmt, war ihm wichtiger als ein genialer Künstler, der etwas ganz Neues erfindet. Warburg suchte nach den Erfahrungen des »hantierenden Menschen«.

Für eine materialistische Kunstbetrachtung ist bei ihm viel zu holen, wenn er auch kein Materialist im strengen Sinn ist. Denn Funktionen von Werken herauszupräparieren, ist nur die halbe Arbeit, sie müssten ja auch auf die Produktionsweisen und auf die sozialen Strukturen ihrer Entstehung bezogen werden können. Ist der Schmerz, dessen Geste wiederkehrt, in einer Sklavenhaltergesellschaft nicht anders situiert als in einer frühbürgerlichen? Das sind aber Fragen, die auf Grundlage von Warburgs Bildernetzen einfacher zu stellen sind als ohne sie.

Dass das HKW für seine Rekonstruktion des Bilderatlas marktschreierisch als für »Das Original« wirbt, befremdet. Erstens bleibt auch eine Rekonstruktion, die Originalvorlagen verwendet, eine Rekonstruktion, zweitens ist bekannt, dass Warburg rastlos neue Versionen seines Atlas anlegte und auch die letzte, vom Herbst 1929, noch unfertig ist, drittens sollte man gerade in einer postmodernen Institution wie dem HKW wissen, was für eine zweifelhafte Kategorie das »Original« ist.

Die Ausstellung, die HKW-Intendant Bernd M. Scherer ein »Jahrhundertereignis« nennt, ist visuell reizlos. Die Exponate befinden sich in »Petersburger Hängung« dicht an dicht auf den schwarzen Tafeln, ohne atmen und zueinander in eine Beziehung treten zu können. Wer in Ruhe die Zusammenhänge studieren will, ist mit dem begleitend zur Ausstellung erschienenen Folianten besser bedient, doch der ist unerschwinglich teuer, außerdem zeigt er auch nur die Bilder und erläutert ihre Herkunft. Wo genau ist der Zusammenhang? Aufklärung verspricht ein Kommentarband, der nächstes Jahr erscheinen soll. Allzu hohe Erwartungen an ihn muss man nicht haben. Roberto Ohrt, der mit Axel Heil die Ausstellung kuratiert hat, glaubt, dass wir dank des Atlas besser »über die Kunstwerke reden« können. Das ist aber doch wieder der eng kunsthistorische, snobistisch-kennerschaftliche, von Warburgs Ikonologie längst überwundene Ansatz. Wer Warburgs Zusammenhänge erkennen wollte, sollte mehr als Kunsthistoriker, sollte Generalist, am besten aber Warburg selbst sein.

Wie der Direktor des Warburg-Instituts, Bill Sherman, schreibt, bleibt der Atlas Warburgs »rätselhaftestes Werk«. Wer als Laie vor den Tafeln steht, dem werden die Verschiebungen, die sie herstellen, stärker auffallen als die Ähnlichkeiten. Auf Tafel C zeigt sich, wie sich das Menschenähnliche des Kriegsgottes Mars über die Jahrhunderte abstrahiert. Warburg erscheint der Mars schließlich als Zeppelin, der ja auch ein Militär-Luftschiff war.

Einen ähnlich unbequemen Sprung mutet er mit Tafel 77 zu, wo er, vor allem mit Hilfe von Briefmarken, die Kindermörderin Medea mit einem Monument des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg kontert. Wer nun denkt, Warburg schlage hier einen Bogen zurück zu dem Zeppelin auf Tafel C, irrt, denn der »Hindenburg« getaufte Zeppelin hatte seine Jungfernfahrt erst 1936. Doch sollte man sich solches Beziehungsspiel grundsätzlich verbieten? Warburgs Denken lädt doch zu ihm ein. Unbeantwortet bleibt dabei nicht nur die soziologische Frage, aus welchem Grund sich uns manche Assoziationen aufdrängen, andere nicht. Aby Warburg ist ein Mann der Fragen, keiner der Antworten.

»Aby Warburg. Bilderatlas Mnemosyne. Das Original«, bis 30. November im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin. Die Begleitausstellung »Zwischen Kosmos und Pathos«, die Vorlagenwerke zum Bilderatlas präsentiert, ist in der Gemäldegalerie, Kulturforum, Berlin, noch bis 1. November zu sehen.

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